Spektakuläre Experimente - Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert

Spektakuläre Experimente - Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert

Organisatoren
Projekt A6 "Spektakuläre Experimente - Historische Momentaufnahmen zur Performanz von Wissen" des Sfb 447 "Kulturen des Performativen"
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.11.2004 - 06.11.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Hole Rößler, Berlin

Für René Descartes war die Evidenz der Intuition das probate Kampfmittel gegen jene „scriptores“, die das Offensichtliche zum eigenen Ruhme stets verschleierten. 1 Er wies damit der Suche nach der Wahrheit einen Königsweg, der den Wissenschaften, ihren Methoden und Gesten, ihren Entdeckungen oder Erfindungen bis heute die Richtung gewiesen hat. Diesen Weg anhand ausgezeichneter Etappen, Gabelungen und Sackgassen in seiner Frühzeit kritisch zu kartographieren, hat sich vom 4. bis 6. November die Konferenz „Spektakuläre Experimente – Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert“ aufgemacht. Es war dies die dritte Konferenz in jährlicher Folge, die das Projekt „Spektakuläre Experimente – Historische Momentaufnahmen zur Performanz von Wissen“ des Sonderforschungsbereiches „Kulturen des Performativen“ der Freien Universität Berlin ausrichtete.2 Nach der Bedeutung des Raumes (2002) und des Instruments (2003) fragten die Veranstalter Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig diesmal nach dem Anteil der Theatralität in den experimentellen Praktiken der Wissensproduktion. Dabei stellt diese originär theaterwissenschaftliche Fragestellung unbestritten eine ebenso originelle wie notwendige Bereicherung zu bisherigen wissenschaftshistorischen Ansätzen dar, die vornehmlich die soziologischen oder materiellen Bedingungen und weniger den eigentlichen Prozess der Wissensgenerierung untersuchen. Diese ästhetische Perspektive legitimiert sich gerade in Hinblick auf Strategien der Evidenzproduktion, wenn diese durch äußere Mittel kein Verstehen, sondern Überzeugungen zu schaffen versuchen. So sieht sich beispielsweise der Physiker Abraham Kästner im 18. Jahrhundert gezwungen, seine Experimentalvorlesungen neu zu organisieren, da er feststellt, dass viele Studenten diese nur noch besuchen, um Physik zu sehen, nicht aber um etwas darüber zu lernen. 3 Diese selten redliche Einstellung illustriert immerhin, dass auch in den Wissenschaften der Schauwert eine nicht zu unterschätzende, bislang aber wenig behandelte Rolle spielt.

Dem ehrgeizigen Vorhaben der Konferenz folgte eine Reihe Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Fachrichtungen, die alle ihre zum Teil sehr spezielle und in wenigen Fällen auch eingeschränkte Perspektive auf die Konstituierungsphase der neuzeitlichen Wissenschaften vorrstellten. Es darf der Organisation der Konferenz angerechnet werden, dass trotz dieser fachlichen und methodischen Divergenzen eine ungewohnte und ungewöhnliche Konkordanz der Beiträge erzielt wurde, die vielfältige Bezüge unter den Einzelergebnissen ermöglichte. Die folgende Auswahl von sieben der insgesamt 24 Vorträge darf daher trotz ihrer subjektiven Beliebigkeit als repräsentativ gelten, insofern sie einige Positionen und deren Kritik skizziert, die in den Vorträgen und Diskussionen immer wieder auftauchten.

Richard Nate (Katholische Universität Eichstätt) hatte die Experimentberichte Robert Hookes und Robert Boyles unter literaturwissenschaftlicher Perspektive gelesen und verortete in ihnen eine der Wurzeln moderner Poesie. Indem die Gründungsmitglieder der Royal Society ihre persönlichen Lebensumstände und Schwierigkeiten mit widerspenstigen Untersuchungsobjekten anekdotenhaft in ihre Beschreibungen aufnehmen, führen sie das beobachtende und spekulierende Subjekt in die Literatur ein. In der Rezeption dienen die prozessorientierten Beschreibungen als direkte Vorlage für fiktionale Texte, von denen Jonathan Swifts Satiren die bekanntesten sind. Es wäre verlockend gewesen, diese Autoreferenzialität avant la lettre als mögliche Gegenposition zu modernen Darstellungsformen zu diskutieren, was aber auch aufgrund der eher historischen Ausrichtung der Konferenz leider unterbleiben musste. Darüber hinaus bildete dieser Vortrag eine wichtige Kontrastfolie zu darauffolgenden Beiträgen, in denen Strategien beschrieben wurden, durch die sich das Forschersubjekt ohne jegliches Entdeckerpathos hinter seinen Ergebnissen zum Verschwinden bringt.

So führte James McAllister (Universität Leiden) die Geste der Mühelosigkeit (effortlessness), mit der gerade Naturwissenschaftler ihre Ergebnisse vorführten, auf die Figur des „honnête homme“ zurück. 4 Wie in diesem Verhaltensideal der französischen Klassik wird in der Präsentation wissenschaftlicher Ergebnisse jede Spur des Artifiziellen getilgt, um den Eindruck der Natürlichkeit – und folglich Wahrhaftigkeit – zu wecken. Er machte damit auch auf ein Paradox aufmerksam, das im Rahmen der Konferenz immer wieder auftauchte: Es werden bisweilen die größten Anstrengungen unternommen, um jene Anstrengungen zu verbergen, die für das Zustandekommen der Ergebnisse notwendig waren. Der damit zusammenhängenden Feststellung der absichtsvollen Nachlässigkeit, die gegenwärtige Naturwissenschaftler in der Darstellung ihrer aufwändig gewonnenen Untersuchungsergebnisse an den Tag legten, wollten indes nicht alle Anwesenden folgen.

Einer paradoxen Logik unterstehen auch die Präparate, die im Zentrum der Betrachtungen Hans-Jörg Rheinbergers (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin) standen. Um als Musterbeispiel der Natur gelten zu können, wird das Präparat z.T. höchst aufwendigen Manipulationen der Konservierung und Präsentation unterzogen, die selbst unsichtbar bleiben müssen. Zu diesen Maßnahmen zählt zum einen auch die Rekontextualisierung der Untersuchungsgegenstände: Damit an ihnen etwas sichtbar wird, werden sie an andere Orte verbracht und auf diese Weise in andere Zusammenhänge gestellt. Zum anderen muss das Präparat entindividualisiert werden: Damit es eine Repräsentationsfunktion erhalten kann, muss es alle Anzeichen des Unikats verlieren. Bereits hier stellte sich die Frage, was am Präparat eigentlich zur Erscheinung kommt, das Substrat, dessen Teil und Signifikant es ist, oder die Präparationsmethode selbst.

Gerhard Wiesenfeldt (Universität Jena) knüpfte an seine Ausführungen zur Universität Leiden im Vorjahr an und betonte die – für die gesamte Konferenz ungemein wichtige – Differenz zwischen Forschungs- und Demonstrationsexperiment. Letzteres besaß entgegen den Praktiken späterer Zeiten im 17. Jahrhundert in Leiden einen epistemischen Wert, wenn es innerhalb von akademischen Disputationen dazu führte, dass die Ausgangsthese modifiziert werden musste. Daneben dienten Schauexperimente als jeweils aktual zu erbringende Belege für längere Beweisketten im Rahmen öffentlicher Demonstrationen, woran zumindest bemerkenswert ist, dass im Gegensatz zur Praxis der Royal Society, diese Experimente nicht aus ihrem theoretischen Beweiszusammenhang genommen werden konnten. Wiesenfeldts Darstellungen konzentrierten sich vor allem auf die Experimentalpraxis der niederländischen Newtonianer, zu deren bekanntesten Vertretern Herman Boerhaave zählt. Diese Gelehrten des frühen 18. Jahrhunderts verbanden in ihren Demonstrationen aufs engste Naturwissenschaft und calvinistische Theologie miteinander. Die Wiederholung eines Experiments diente ihnen nicht hauptsächlich zur Verifizierung des Ergebnisses, sondern zur immer neuen Offenbarung göttlicher Schöpfung. Die physikalische Vorführung wird damit zu einem Gottesdienst. Evidenz ist demnach nur im Rahmen einer religiösen Erfahrung möglich.

Der Literaturwissenschaftler Volkard Wels (Universität Potsdam) versuchte anhand barocker Poetiken und Dramen nachzuweisen, dass Evidenz auf deutschen Theaterbühnen des 17. Jahrhunderts nicht eine Folge ästhetischer Überwältigung war. Demnach war nicht die ästhetische Illusion das eigentliche Ziel, sondern eine an Aristoteles orientierte logische Argumentation, die dem Zuschauer beispielhaft die – oft genug jenseitigen – Konsequenzen bestimmter Verhaltensweisen vor Augen führte. Im Gegensatz zu den europäischen Nachbarn war in Deutschland das protestantische bzw. jesuitische Schultheater die vorherrschende oder beherrschende Theaterform, deren Darsteller, die Schüler, zugleich das Zielpublikum bildeten. Wels These von der Illusionsarmut beruht dabei offenbar ausschließlich auf der Untersuchung von Texten, denn angesichts der bisweilen recht aufwendigen Bühnenmaschinerie insbesondere der Jesuitenbühne wäre für die Theaterpraxis sicherlich nach einer möglichen Verschaltung von Illusionstechniken und rhetorischen Strategien zu fragen.

Obwohl es sich die Konferenz nicht zur Aufgabe gemacht hatte, Alternativen zu den gängigen Praktiken wissenschaftlicher Überzeugungsarbeit zu entwickeln, bewiesen die Vorträge von Rainer Gruber (Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik Garching) und Friedrich Kittler (Humboldt-Universität Berlin) dennoch, dass der Prozess der Präsentation bisweilen wichtiger und weiterführender als die präsentierten Ergebnisse sein kann. Grubers Ausführungen zur Erforschung des Urknalls erteilten dem vornehmlich geisteswissenschaftlich orientierten Publikum eine Lektion in entferntem Verstehen und wurden zudem noch von einer Performance weniger gestört als vielmehr untermalt. Ebenso dürfen Kittlers Darlegungen zur Kithara und deren Bedeutung für die antike Mathematik vor allem wegen seines Vortragsstiles als eine Variante der fröhlicheren Wissenschaft gelten. Möglicherweise sind Dunkelheit und Rätselhaftigkeit nicht immer das Gegenteil von Klarheit und Wahrheit, sondern Ausdruck komplexer Probleme, deren Verstehen Arbeit erfordert. In einer Umdrehung der kartesischen Diagnose wäre heute vielleicht allen allzu evidenten Ergebnissen mit Vorsicht zu begegnen und die Performanz der Wissenschaften als einer ihrer wesentlichsten Teile zu begreifen.

Es gibt im Theater der Wissenschaften keine Evidenz ohne Schleier, der ihre Produktionsweisen und -mittel im Dunkeln lässt. Diese Erkenntnis ist auch in Bezug auf die Wissenschaften so neu nicht – es ist aber das Verdienst dieser Konferenz, sehr genau bestimmte Techniken oder Mechanismen dieser Mikrophysik des Wissens aufgedeckt oder problematisiert zu haben. Evidenzproduktion inszeniert die epistemischen Dinge so, als sprächen sie für sich selbst. Diese Bauchrednertricks und Verschleierungstaktiken der „scriptores“ und ihrer Epigonen, so wurde auf dieser Konferenz klar, sind nicht Symptom einer längst überwundenen Frühzeit der modernen Wissenschaften, sondern sind Teil einer alltäglichen Wissenschaftspraxis, die heute mehr denn je unsere Lage bestimmt.

Alle Vorträge werden im dritten Band der von den Veranstaltern herausgegebenen Reihe Theatrum Scientiarum voraussichtlich Anfang 2006 bei de Gruyter erscheinen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Descartes, René. Regulae ad directionem ingenii. / Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Übs. u. hg. v. Lüder Gäber u.a. Hamburg 1993, S. 14f. (Regula III).
2http://www.spektakulaere-experimente.de
3 Vgl. Kästner, Abraham Gotthelf, Briefe aus sechs Jahrzehnten. 1745-1800, Berlin 1912, S. 218.
4 Faret, Nicolas, L’Honneste homme, ou l’Art de plaire à la court, Paris 1630 (dt. 1647).


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